Zwei die sich lieben, doch nicht bereit sind, alles für den anderen aufzugeben. Emotionale Höhen und Tiefen, unerwiderte Liebeserklärungen, Eifersucht, tragische Entscheidungen. Schafft man es überhaupt, dass man als Zuschauer versteht, wie sich die Figuren fühlen, wie sie handeln und vor allem, warum sie so handeln?
Tschaikowski zumindest versucht, genau das zu zeigen und erreicht durch die Oper „Eugen Onegin” eine neue Sichtweise auf die Komplexität menschlicher Beziehungen. Doch wie genau gelang es ihm und der Hannoverschen Inszenierung, durch Tschaikowskis distanzierte Herangehensweise an die Darstellung der Figuren im Versroman von Puschkin, der mitunter ironisch über ihre Gefühle scherzte, diesen Charakteren eine bemerkenswerte Emotionalität zu verleihen, die auch das Publikum mitfühlen lässt?
Die Handlung der Oper, eine einfache Geschichte, spielt in einem Frauenhaushalt, bewohnt von den Figuren Olga, eine aufgeweckte und fröhliche Frau und ihrer verträumten Schwester Tatjana, nahe der Stadt St. Petersburg gegen Ende des 18. Jahrhunderts.
Im ersten Akt bei einem Besuch des Dichters Lenskis, Olgas Verlobten, bringt dieser seinen Freund Eugen Onegin mit. Tatjana findet in Onegin den ersehnten Mann ihrer Träume wieder und entwickelt direkt ein starkes Gefühl der Liebe für ihn. Noch in derselben Nacht schreibt sie einen Brief und offenbart ihm ihre Gefühle. Allerdings wird sie von Eugen Onegin abgewiesen und er fordert sie auf, sich im Griff zu behalten.
Im zweiten Akt findet anlässlich Tatjanas Namenstages eine Feier statt, zu welcher sich besagte Figuren erneut treffen. Hier meiden sich Tatjana und Onegin, doch im Laufe des Abends tanzt Eugen Onegin mit ihrer Schwester Olga. So geraten Onegin und Lenski, Olgas Verlobter, in einen Streit, da der Dichter aufgrund seiner Verlobung eifersüchtig wird. Die Situation verschärft sich so, dass sie sich zum Duell herausfordern, welches schließlich für Lenski ein tödliches Ende nimmt.
Der dritte Akt spielt viele Jahre später. Onegin kommt von seinen Reisen zum Fürsten Gremin und trifft dort dessen Ehefrau Tatjana wieder. Erst dort versteht Onegin seine Gefühle für Tatjana und gesteht ihr diese. Auch Tatjana erwidert die Liebe, doch ist diese Chance verpasst und gehört der Vergangenheit an.
Allgemein handelt es sich also um ungewöhnlich alltägliche Figuren, welche man als Zuschauer in einem intimen Drama beobachtet. Die Inszenierung zeichnet sich vor allem darin aus, dass diese die Echtheit der Figuren betont und eine emotionale Nähe aufgebaut wird. So erhalten Figuren wie Tatjana und Eugen Onegin einen sehr ausgeprägten, tiefgründigen Charakter, dessen Gefühle man besonders gut nachvollziehen und mitfühlen kann. Erreicht wird dies beispielsweise durch ein Bühnenbild mit zurückhaltenden Farben, die den Fokus auf das Drama selbst legen. Dabei dient jeder Akt der intensiven Ausarbeitung der Charaktere und stellt jeweils eine Figur in den Vordergrund.
Im Vordergrund des ersten Aktes stehen Tatjana und die Briefszene, in welcher sie ihre Gefühle niederschreibt. Dem Zuschauer fallen verschiedene szenische Mittel auf, ihre Gedanken authentisch erlebbar zu machen. Während Tatjana an Eugen denkt, öffnen sich die Wände des Mehrgenerationenhauses und zum Vorschein kommt eine idyllische Naturlandschaft. Offensichtlich entwickelt Tatjana eine Leidenschaft oder animalische Lust. Andererseits treffen Tatjana in derselben Szene auch gegensätzliche Gefühle, denn gleichzeitig ist sie sich bewusst, welche Folgen ein Abschicken des Briefes haben könnte. Ausgedrückt wird dies unter anderem von einer überraschenden Aktion, in welcher sie sich eine Vase voll Wasser über den Kopf schüttet. Ob es nun ein Abkühlen von dem Dilemma oder eine Demütigung im Voraus aus Scham darstellt, bleibt zwar zu diskutieren, jedoch ist es ein eindeutiges Symbol ihrer Verzweiflung und ihres Zwiespaltes zwischen Leidenschaft und Zweifel.
Im zweiten Akt, Lenski in den Vordergrund stellend, entsteht der Konflikt zwischen Onegin und Lenski. Es ist etwas schwammig, wie genau die Situation zwischen den beiden Freunden so stark eskalieren konnte, da sich Onegins Provokationen in der szenischen Umsetzung auf einen Tanz zwischen ihm und Olga beschränken. Auf diese Weise wirkt Lenski auf den Zuschauer besonders eifersüchtig und Eugen eher unschuldig. Nur geringe Provokationen Seiten Eugens führen Lenski in den Tod, wie man später feststellen wird. Außerdem kürzt der Einsatz von Alkohol in der Szene die Tragweite des Konflikts. Durch die Feierlichkeiten zu Tatjanas Namenstag wurden nämlich große Mengen an Alkohol getrunken, sodass Eugens und Lenskis Konflikt auch aus dem Rausch heraus entstanden sein könnte. Der Streit ist also entweder gänzlich unnötig oder wurde erst durch den Alkohol zum Vorschein gebracht. Zunächst gibt es darauf für den Zuschauer keine Antwort. Erst die Duellszene der beiden gibt einen Ausschlag darüber. Nach langem Zögern beider Figuren findet es tatsächlich statt, wobei sowohl Eugen als auch Lenski widerwillig erscheinen, dieses Duell einzugehen. Vielmehr sind ihr Pflichtbewusstsein und Stolz Antrieb dessen. Doch beide scheinen nicht besonders sicher in ihrem Auftreten. In einer atemberaubenden Szene treffen die beiden Figuren nun tatsächlich kämpferisch aufeinander, doch nimmt dies ein unerwartetes Ende: Lenski stirbt, wobei es Lenski selbst war, der den Schuss auf sich abgedrückt hat (soweit man es im Gerangel erkennen konnte). Will sich Lenski aufgrund seiner gescheiterten Liebe nun also selbst zerstören? Wurde er vom “Wahnsinn” überrollt?
Im dritten Akt wird die Liebe zwischen Tatjana und Onegin verarbeitet. Während Tatjana verheiratet im Leben steht, konnte sich Eugen Onegin nach dem Duell nicht reintegrieren. Unter den Gästen des Fürsten scheint er fehl am Platz. Verzweifelt ist es diesmal er, der probiert Tatjanas Liebe zu gewinnen, was in Gegenüberstellung mit dem ersten Akt wie ein Rollentausch wirkt. Symbolisch wurde auch die Leidenschaft in Form von Natur aufgegriffen. Tatjana hütet diese sauber abgetrennt in einem Terrarium. Nebenbei bemerkt hat sie also tatsächlich Eugens Rat, sich im Griff zu halten, angenommen. Nach eben dieser Leidenschaft sehnt sich nun Onegin, weshalb er auf der Bühne in das Terrarium klettert und sich mit Erde beschmiert. Zudem betont vor allem der dritte Akt die Oberflächlichkeit der Gesellschaft. Zwar tritt dieses Motiv schon zuvor auf, da Tatjana beispielsweise nach ihrem Geständnis ihrer Gefühle an Eugen durch mehrere Fenster von Menschen beobachtet wird, jedoch wird Eugen im dritten Akt von den Gästen des Fürsten ausgegrenzt und möglicherweise für seine Tat im Duell verurteilt. Zum Ausdruck kommt die Oberflächlichkeit darüber hinaus in einem Tanz der Gäste, der an einen Marionettentanz erinnert. Der dritte Akt und damit auch die Oper enden, indem Onegin mit dem Gedanken des Suizids ringt. Er befindet sich niedergeschlagen und deprimiert am Boden, als bliebe ihm nichts mehr in der Welt, und hält sich eine Pistole gegen den Kopf. So endet die Oper und die Frage schwebt im Raum: „Schafft es Eugen Onegin am Ende nicht, sich umzubringen?“, denn was soll aus ihm werden? Eugen Onegin überrascht hier als kein klassischer Bösewicht, denn auch er sieht seine Schuld und rächt sich beispielsweise nicht an Tatjana. Stattdessen sympathisiert der Zuschauer mit ihm und man empfindet Mitleid. Soll Eugen Onegin wohl mit seiner Schuld leben?
Die Aufführung wirft viele tiefgründige Fragen auf, die den Zuschauer zum Nachdenken anregen: Sollten wir lernen, mit unserer Schuld zu leben? Wie konnte es dazu kommen, dass das Duell zwischen Lenski und Eugen Onegin trotz aller Zweifel so eskalierte? Diese Fragen lassen die Oper weit über die reine Unterhaltung hinaus zu einer philosophischen Reflexion werden, die lange nach dem Verlassen des Theaters nachwirkt.
Jedoch gibt es auch Aspekte, die kritikwürdig sind. Die Inszenierung des Konflikts zwischen Lenski und Onegin lässt an Tiefe vermissen. Die Ernsthaftigkeit der Situation wird durch diverse chaotische Elemente wie das Essen einer Wassermelone, kopflose Menschen oder den allgemeinen Alkoholrausch der Figuren übertönt. Diese Inszenierungselemente lenken vom eigentlichen Konflikt ab und erschweren es dem Publikum, die Tragweite des Duells zu erfassen. Was trieb Lenski dazu, nur wegen eines Tanzes ein Duell zu fordern? Was wäre geschehen, wenn Eugen Onegin diese Forderung abgelehnt hätte? War es wirklich Stolz, der ihn dazu brachte, sich dem Duell zu stellen?
Die Hannoversche Inszenierung der Oper “Eugen Onegin” kann ohne Zweifel als ein großer Erfolg verbucht werden. Die ohnehin schon zutiefst emotionale Oper, die sich um die verpasste Chance zweier Liebender dreht, wird durch die eindrucksvolle Darstellung der Figuren und Szenen auf eine noch tiefgründigere Ebene gehoben. Dies gelingt vor allem durch den geschickten Einsatz verschiedenster szenischer Darstellungen. Diese Inszenierung ermöglicht es dem Zuschauer, die inneren Konflikte und Gefühle der Charaktere intensiv nachzuvollziehen, was ein tiefes emotionales Mitgefühl hervorruft und zum Nachdenken über die aufgeworfenen Fragen anregt.
Die musikalische Darbietung spielt dabei eine entscheidende Rolle. Tschaikowskys meisterhafte Kompositionen werden vom Orchester der Staatsoper Hannover mit bemerkenswerter Präzision und Emotion zum Leben erweckt. Die Musik verstärkt die dramatischen Momente und unterstreicht die inneren Turbulenzen der Charaktere. Besonders beeindruckend ist die Art und Weise, wie die Musik die Stimmung jeder Szene einfängt und dem Publikum die Möglichkeit gibt, die Tiefe und Komplexität der Gefühle von Tatjana, Onegin und Lenski zu spüren. (Tankred Prüsse)